In den letzten Jahren wurde viel über die Revision des Sexualstrafrechts debattiert und verschiedene Lösungen diskutiert: Braucht es einen «Ja = Ja»-Ansatz oder genügt eine «Nein-heisst-Nein»-Regel? Wann ist von einer Vergewaltigung zu sprechen und was für Handlungen sollen überhaupt strafrechtlich verfolgt werden können (oder müssen)? Nach längerem Hin und Her trat nun am 1. Juli 2024 das neue Sexualstrafrecht in der Schweiz in Kraft.
Die Strafbarkeit von sexuellen, unerwünschten Handlungen ist ein polarisierendes und heikles Thema. Das Sexualstrafrecht wurde in der Schweiz zwar immer wieder schrittweise angepasst, die letzte grössere Revision fand jedoch im Jahr 1992 statt. Dass das bis vor kurzem geltende Sexualstrafrecht entsprechend nicht mehr zeitgemäss ist, erklärt sich somit praktisch von selbst. Es genügen wenige Stichworte wie Emanzipation, Selbstbestimmtheit, #metoo und LGBTQ+. Während Schweden ab dem 1. Juli 2018 jeden Geschlechtsverkehr ohne ausdrückliche Zustimmung der Beteiligten als Vergewaltigung unter Strafe stellte («Nur Ja heisst Ja»), konnte in der Schweiz bis zur aktuellen Gesetzesänderung nur eine Person des weiblichen Geschlechts Opfer einer Vergewaltigung werden. Entsprechend lauter wurden die Rufe nach einer Revision des «Kern-Sexualstrafrechts». Nach zähen Verhandlungen zieht die Schweiz nun (fast) nach und passt die wichtigsten Sexualstraftatbestände nach dem Grundsatz «Nein-heisst-Nein» an. Was dies nun genau bedeutet, fassen wir Ihnen nachstehend zusammen.
Die wichtigsten Änderungen ab 1. Juli 2024
Nein-heisst-Nein
Die wichtigste Änderung, welche sich durch das ganze neue Sexualstrafrecht zieht, ist die Umsetzung der sogenannten Ablehnungslösung «Nein-heisst-Nein». Damit geht die Schweiz einen Mittelweg zwischen dem altrechtlichen Sexualstrafrecht, bei welchem es die Anwendung eines Nötigungsmittel auf Seiten der Täterschaft und Abwehrhandlungen (ein «sich zu Wehr setzen») auf der Opferseite benötigte, damit z.B. der Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt war, und der schwedischen nur «Ja = Ja»- Lösung, bei welcher es für jeden sexuellen Kontakt zuvor einer Zustimmung bedarf.
Die Ablehnungslösung bedeutet konkret, dass die Vornahme einer sexuellen Handlung strafrechtlich verfolgt und bestraft wird, wenn das Opfer der Täterschaft durch Worte oder durch eine Geste zeigt, dass es mit der sexuellen Handlung nicht einverstanden ist und sich die Täterschaft jedoch über diesen vom Opfer geäusserten Willen hinwegsetzt. Für eine Strafbarkeit genügt es mit anderen Worten, wenn das Opfer entweder ausdrücklich «nein» sagt oder z.B. durch Ab-/Wegdrehen zeigt, dass es die Handlung nicht möchte. Hierfür wurde einerseits der neue Tatbestand des sexuellen Übergriffs (Art. 189 Abs. 1 StGB) geschaffen und andererseits die altrechtlichen Tatbestände neu formuliert.
Die Anwendung von Gewalt oder psychischem Druck seitens der Täterschaft wird für die Strafbarkeit also nicht mehr vorausgesetzt. Relevant ist die Anwendung von Gewalt oder psychischem Druck jedoch weiterhin für die rechtliche Würdigung, ob der Tatbestand des sexuellen Übergriffs (Art. 189 Abs. 1 StGB ohne Gewalt), der sexuellen Nötigung (Art. 189 Abs. 2 StGB mit Gewalt) oder eine Vergewaltigung nach Art. 190 Abs. 1 oder Abs. 2 StGB vorliegt. Die Tatbestände haben nämlich unterschiedliche Strafen zu folgen. So droht bei einer Vergewaltigung unter Anwendung von Gewalt oder psychischem Druck nach Art. 190 Abs. 2 StGB eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bis zu zehn Jahren, während eine Vergewaltigung nach Abs. 1 keine Mindeststrafe und eine Höchststrafe von «nur» 5 Jahren vorsieht.
Geschlechterneutrale Formulierung Vergewaltigung
Bis zur Gesetzesrevision konnten faktisch nur Frauen Opfer einer Vergewaltigung werden. Nach dem neuen Art. 190 StGB liegt eine Vergewaltigung neu vor, wenn jemand gegen den Willen einer Person den Beischlaf oder eine beischlafähnliche Handlung, die mit dem Eindringen in den Körper verbunden ist, an dieser vornimmt oder zu diesem Zweck einen Schockzustand einer Person ausnützt.
Mit dieser neuen Fassung können somit alle Personen unabhängig des Geschlechts Opfer einer Vergewaltigung werden.
Problematik Schockzustand
Bei sexuellen Übergriffen kommt es oft vor, dass das Opfer sich in einem Schockzustand befindet und sich aufgrund dessen gar nicht erst zu Wehr setzen kann. Da es in einer solchen Situation am klaren «Nein» des Opfers mangelt, wäre die Vornahme von sexuellen Handlungen am Opfer bei einer strikten Umsetzung der Ablehnungslösung wohl nicht strafrechtlich verfolgbar. Um diesem bekannten Problem Rechnung zu tragen, hat sich der Gesetzgeber dazu entschieden, die Straftatbestände des sexuellen Übergriffs und der Vergewaltigung zu ergänzen und hat auch das Ausnützen eines Schockzustandes einer Person zum Zwecke der Vornahme von sexuellen bzw. beischlafähnlichen Handlungen gegen den Willen der Person unter Strafe gestellt.
«Sexueller Übergriff» insbesondere Stealthing
Unter Stealthing versteht man das heimliche und nicht einvernehmliche Entfernen eines Kondoms während des Geschlechtsverkehrs. Unter altem Recht war dieses Verhalten nicht strafbar. Es bestand mit anderen Worten eine Lücke im Gesetz. Diese Lücke wurde nun mit dem Straftatbestand des sexuellen Übergriffs geschlossen, welcher jede sexuelle Handlung gegen den ausdrücklichen Willen der anderen Person unter Strafe stellt.
Mit dem neu umgesetzten «Nein-heisst-Nein»-Prinzip und den weiteren aufgeführten Änderungen wird der Anwendungsbereich der strafrechtlichen Sexualdelikte ausgedehnt und der Opferschutz verstärkt. Dies ist erfreulich. Zu erwähnen bleibt jedoch, dass die stets bestehenden Beweisschwierigkeiten bei Vier-Augen-Delikte, wie es Sexualdelikte meistens sind, damit nicht gelöst werden.
Sollten Sie jemals Opfer eines Sexualdelikts oder zu Unrecht beschuldigt werden, ist es stets zu empfehlen, schnellstmöglich die erforderlichen Schritte einzuleiten. Wir helfen Ihnen dabei, sei dies als Opfervertretung oder als Strafverteidigung.