Sind Verträge noch das Papier wert auf dem sie geschrieben sind?

Wer gemeint hat, mit der Corona-Krise seien nun die Möglichkeiten aufgezeigt, wie Verträge durch eine Krise in „Schieflage“ …

am 16. August 2022

um 08:57 Uhr

Wer gemeint hat, mit der Corona-Krise seien nun die Möglichkeiten aufgezeigt, wie Verträge durch eine Krise in „Schieflage“ geraten könnten, sieht sich eines Besseren belehrt. Neben den andauernden Lieferschwierigkeiten und Engpässen führen nun auch nie – oder jedenfalls sehr lange nicht mehr – dagewesene Preisanstiege zu Situationen, welche die Fortführung eines Vertrags wirtschaftlich uninteressant oder sogar ruinös erscheinen lassen. „Wie komme ich da raus?“ Fragen sich manche. Wir haben ein paar Gedanken dazu:

Vertragsanpassung aufgrund wesentlich geänderter Verhältnisse (clausula rebus sic stantibus)

In der Schweiz hat der Richter die Möglichkeit, in einen Vertrag „einzugreifen“, den Vertrag also zu verändern oder zu ergänzen. Dies jedoch nur, wenn die Verhältnisse seit Vertragsabschluss dermassen geändert haben, dass eine schwere Äquivalenzstörung vorliegt, d.h. das Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung (insbesondere Preis) massiv von dem abweicht, was sich die Parteien beim Vertragsschluss vorgestellt haben. Zudem muss die Störung für die Parteien weder voraussehbar noch vermeidbar gewesen sein.

Allein das letzte Kriterium macht schon klar, dass ein richterlicher Eingriff in einen Liefervertrag wegen Preiserhöhungen oder Lieferschwierigkeiten beim Rohmaterial nur in ganz seltenen Fällen zu erwarten ist. Grundsätzlich sind auch grössere Preisänderungen und Lieferunterbrüche für beide Parteien nicht ausserhalb des Vorstell- und Vermeidbaren, auch wenn sie in den letzten Jahren bis zum Beginn der Covid-Krise kaum eine Rolle gespielt haben mögen. Werden im Vertrag z.B. Preis und Lieferzeitpunkt verbindlich festgelegt und fehlen ansonsten Bestimmungen, welche den Umgang mit Störungen regeln, wird damit das Risiko einer Störung weitestgehend dem Lieferanten „zugeschoben“, und es gelten die üblichen Regeln des Schweizerischen Obligationenrechts (OR) über Lieferverzögerungen, Schadenersatz und Vertragsauflösung. Sind Preise und Lieferfristen hingegen „flexibel“ gestaltet, dürfte das auf eine Risikoverlagerung auf den Abnehmer hindeuten. In beiden Fällen wird der Richter nach dem oben dargestellten, strengen Massstab wohl kaum in den Vertrag eingreifen. Ob die jüngsten, extremen Steigerungen von Rohmaterial, Gas- und Elektrizitätspreisen ausreichen, um die clausula rebus sic stantibus zu aktivieren, dürfte die Gerichte eine Weile beschäftigen.

Die sogenannte «Unmöglichkeit»

Eine besondere Regelung findet sich in Art. 119 OR, wonach eine Forderung als erloschen gilt, wenn die Leistung durch Umstände, die der Schuldner nicht zu verantworten hat, unmöglich geworden ist. Die Leistung muss allerdings dauerhaft unmöglich sein. Eine bloss vorübergehende Unmöglichkeit ist hier jedoch nicht gemeint – für „temporäre“ Unterbrüche siehe weiter unten bei Force Majeure.

Die Unmöglichkeit könnte z.B. dann einstellen, wenn die Lieferung von Materialien, Bauteilen oder auch die Erbringung von Dienstleistungen durch Sanktionen ohne Ablaufdatum verboten wird und der Schuldner dies nicht selber zu verantworten hat. Der Nachteil an Art. 119  OR ist allerdings, dass nicht nur die Pflicht zur Leistungserbringung entfällt, sondern auch die Pflicht zur Gegenleistung. Eine bereits empfangene Zahlung müsste somit zurückerstattet werden.

Force Majeure

Force Majeure oder Höhere Gewalt ist im Schweizer Recht nicht ausdrücklich geregelt. Es gilt der Grundsatz, dass Verträge zu erfüllen sind (pacta sunt servanda).

Die Rechtsprechung versteht Höhere Gewalt als ein Ereignis, welches aussergewöhnlich, nicht vorhersehbar und unerwartet ist. Zudem muss es ausserhalb der Kontrolle der Parteien liegen und darf nicht durch Sorgfalt oder Vorkehrungen vermeidbar sein.

Vertragsparteien sind grundsätzlich frei, Force Majeure im Vertrag zu regeln. Viele Verträge enthalten denn auch sogenannte „Force Majeure“-Klauseln, welche definieren, was als Force Majeure-Fall angesehen wird und welche Folgen der Eintritt Force Majeure hat. Krieg, Bürgerkrieg, Generalstreik, Pandemie und behördliche Anordnungen werden meist aufgezählt. Die Folge ist dann, dass die von der Force Majeure betroffene Partei nicht leisten muss, solange die Situation andauert.

Preissteigerungen, auch extreme, werden in aller Regel hingegen nicht als Force Majeure-Fall genannt. Der Lieferant wird sich somit selten auf Force Majeure berufen können, weil seine Rohmaterial- oder Energiepreise derart angestiegen sind, dass zum vertraglich vereinbarten Preis nicht mehr kostendeckend geliefert werden kann. Bleiben Rohmaterial oder Energie jedoch aufgrund von Krieg, Sanktionen oder behördlichen Rationierungsmassnahmen aus und muss daher die Produktion gedrosselt oder gestoppt werden, stehen die Chancen besser, dass sich der Lieferant auf Force Majeure berufen kann.

Allerdings sehen Force Majeure-Klauseln oft auch vor, dass der Vertrag nach einer gewissen Zeit (meist nach mehreren Wochen) aufgelöst werden kann, wenn der Force Majeure-Fall dann immer noch andauert. Die Anrufung der Force Majeure-Klausel birgt also das Risiko für den Lieferanten, den Auftrag bzw. den Kunden ganz zu verlieren.

Es kommt also entscheidend darauf an, wie die Force Majeure-Klausel im konkreten Vertrag formuliert ist und welches Recht auf den Vertrag anwendbar ist. So sieht zum Beispiel das OR keine Force Majeure-Regeln vor, hingegen enthält das UN-Kaufrechtsübereinkommen (CISG) Regelungen über Force Majeure, die anwendbar sind, selbst wenn der Vertrag keine Klausel enthält. Allerdings wird das CISG sehr häufig in Verträgen ausdrücklich ausgeschlossen.

Wie weiter?

Wie immer hängt die rechtliche Beurteilung bei bestehenden Vertragsverhältnissen stark von den konkreten Umständen ab. In den meisten Fällen werden bestehende Verträge nicht einfach zur Makulatur, auch wenn sich die Verhältnisse massiv geändert haben. Eine Anpassung oder sogar Kündigung kann aus Sicht einer oder gar beider Parteien jedoch wünschenswert oder fast unumgänglich sein. Der beste Weg aus diesem Dilemma ergibt sich jedoch meist nicht daraus, dass man die für eine Partei wünschenswerte Position durch mehr oder weniger phantasievolle Interpretation des bestehenden Vertrags herbeiredet und darauf beharrt, sondern indem sich die Parteien anzunähern versuchen.

Eine juristisch fundierte Analyse des bestehenden Vertrags hilft einzuschätzen, woran man im besten bzw. schlimmsten Fall ist. Kombiniert mit einer durch Erfahrung geprägten Beratung, welche gleichermassen juristische, ökonomische und strategische Überlegungen berücksichtigt, lässt sich die beste Lösung entwickeln, und oft wird dies am besten im konstruktiven Gespräch mit dem Vertragspartner gelingen.

Bei neuen Verträgen sollte versucht werden, die Risikozuweisung zwischen den Parteien ausführlicher zu regeln, als dies vielleicht bisher üblich war. Das kann durch Preisgleitklauseln, den neuen Erkenntnissen angepasste Force Majeure-Klauseln oder auch ausserordentliche Kündigungsrechte erreicht werden – die Parteien sind hier weitgehend frei, die für sie am besten geeigneten Lösungen zu entwickeln.

Wir unterstützen Sie bei all diesen Schritten gerne!